Einleitung
Nevirapin (NVP, BIRG 587, Handelsname Viramun®,
Hersteller Boehringer Ingelheim) gehört zur Klasse der antiretroviralen
Substanzen die Nicht-Nukleosidanaloga
RT-Hemmer (NNRTI) genannt werden. Weitere Medikamente dieser Klasse sind
Efavirenz, Etravirin, Delavirdin und Rilpivirin. Die Wirkungsweise dieser
Substanzen besteht in der Hemmung eines viruseigenen Enzyms, der Reverse
Transkriptase. Die Blockierung dieses Enzyms führt zum Abbruch der Übersetzung
der genetischen Information des Virus von RNA in DNA. Dies bedeutet, dass neue
Zellen vor einer Infektion geschützt und weitere Infektionszyklen verhindert
werden. Zwischen den Nicht-Nukleosidanaloga RT-Hemmern
Nevirapin, Efavirenz und Delavirdin besteht eine nahezu 100%ige Kreuzresistenz;
d.h. gegen Viren, die auf die eine Substanz unempfindlich geworden sind nützen
auch die anderen Medikamente nichts mehr.
Nevirapin ist
in Kombination mit Nukleosidanaloga
RT-Hemmern (NRTI) (ABC, AZT, ddI, ddC, 3TC, d4T, FTC, TDF) zur Therapie
der HIV-Infektion bei Erwachsenen und in den USA auch bei Kindern zugelassen.
Für eine Therapie in Kombination mit Protease-Inhibitoren
ist Nevirapin bisher nicht zugelassen.
Resultate von
Studien
Resultate
einer Nevirapin-Studie mit klinischen Endpunkten sind nicht bekannt.
In der Studie
BI-1046 (INCAS Trial) wurden 151 Patienten bisher unbehandelte Patienten mit
einem mittleren viral load von ca. 25'000 RNA-Kopien/ml und einer mittleren
CD4-Zellzahl von ca. 380 Zellen/ul entweder mit einer Kombination von Nevirapin
+ AZT (Retrovir-AZT) + ddI (Videx) oder mit AZT + ddI oder mit AZT + Nevirapin
behandelt. Nach 12 Behandlungsmonaten zeigte sich im Mittel ein Anstieg der
CD4-Zellen von 140 Zellen/ul unter Nevirapin + AZT + ddI, von 30 Zellen/ul
unter AZT + ddI und von 0 Zellen/ul unter AZT + Nevirapin. Der Abfall des viral
loads nach 28 Behandlungswochen betrug unter der Dreierkombination ca. 1.55 log
(eine Abnahme um Faktor 35) und unter AZT + ddI ca. 1.15 log (eine Abnahme um
Faktor 14). In der mit AZT + Nevirapin behandelten Gruppe war er nach einem
raschen Abfall praktisch wieder auf den Ausgangswert zurückgekehrt. Nach einem
Jahr hatten gut die Hälfte der Patienten unter der Dreierkombination und ¼ der
Patienten unter AZT + ddI einen nicht nachweisbaren viral load; die untere
Nachweisgrenze des verwendeten Tests betrug 200 bzw. 20 RNA-Kopien/ml.
Nach einem Jahr konnte bei 12 von 52 (23%) Patienten aus dem Blut weiterhin HIV
angezüchtet werden; bei 13% der Patienten unter der Dreierkombination, bei 29%
unter AZT + ddI und bei 25% unter AZT + Nevirapin bzw. bei 14% der Patienten,
welche die verschriebenen Medikamente "praktisch immer" und bei 29%
der Patienten welche die Medikamente anders eingenommen hatten. Unter
"praktisch immer" verstand man weniger als 28 Behandlungstage mit
nicht vorschriftsgemässer Medikamenteneinnahme.
In der
ATLANTIC Studie werden während 48 Wochen Wirkung und Nebenwirkungen von drei
verschiedenen Dreierkombinationen [3 NRTIs vs 1 NNRTI + 2 NRTIs vs 1 PI + 2
NRTIs] bei bisher unbehandelten PatientInnen miteinander verglichen.
Konkret handelt es sich um eine offene, randomisierte Studie, in der 298
StudienteilnehmerInnen mit im Mittel 408 CD4-Zellen/ul und einem viral load von
15'000 RNA-Kopien/ml mit den Kombinationen d4T(Zerit)/ddI/3TC,
d4T/ddI/Nevirapin oder d4T/ddI/Indinavir (IDV, Crixivan) behandelt werden;
Nevirapin und ddI werden dabei in einer Einmaldosis eingenommen.
Nachfolgend vorläufige Daten, basierend auf den ersten 181 PatientInnen, die
den Zeitpunkt 48 Wochen erreichten; ca. 10% haben die Studie abgebrochen:
d4T/ddI/IDV
d4T/ddI/NVP
d4T/ddI/3TC
<50 Kopien/ml, ITT
57%
51%
49%
<50 Kopien/ml, AT
90%
82%
78%
CD4-Zellen/mm3
+146
+134
+168
Insgesamt
zeigt sich kein Unterschied zwischen den drei Behandlungsarmen. PatientInnen
mit einem Ausgangs viral load von >100'000 RNA-Kopien/ml erreichten jedoch
seltener einen Vial load < 50 Kopien/ml, wenn sie mit d4T/ddI/3TC behandelt
wurden (p<0.023).
In einer in
Spanien durchgeführten offenen, randomisierten Studie wurden PatientInnen,
welche während mindestens neun Monaten mit d4T/3TC/PI behandelt wurden, während
mindestens sechs Monaten einen viral load von <400 RNA-Kopien/ml aufwiesen
und Anzeichen eines Lipodystrophie-Syndroms zeigten entweder mit ihrer
ursprünglichen Kombination weiterbehandelt oder neu mit der Kombination
d4T/ddI/NVP weiterbehandelt.
Die vorläufigen Resultate nach 12 Wochen
bei 21/60 Patienten zeigen, dass der viral load bisher bei allen
StudienteilnehmerInnen < 400 bzw. <50 RNA-Kopien pro Mililiter blieb und
dass bei den Nevirapin-behandelten StudienteilnehmerInnen die
Cholesterin- und Triglyzeridwerte absanken und die gemessene Lebensqualität
anstieg. Die mit Nevirapin-behandelten StudienteilnehmerInnen gaben ebenfalls
an, dass sich die Anzeichen der Lipodystrophie zurückbildeten; biometrische
Studien konnten jedoch keine Unterschied zwischen den PI und Nevirapin-behandelten
Gruppen objektivieren.
In der ARTEN
Studie wurden 569 Patienten bisher unbehandelte Patienten - nach einer lead in
phase von 2 Wochen - entweder mit einer Kombination von Nevirapin 2x 200
mg/Tag + Tenofovir + Emtricitabin (Truvada) oder Nevirapin 1x 400 mg/Tag +
Tenofovir + Emtricitabin oder Atazanavir/r (Reyataz/Norvir)1x
300/100mg/d + Tenofovir + Emtricitabin behandelt. Nach 48
Behandlungsmonaten wiesen 67, 66 und 65% der PatientInnen einen viral load
unterhalb der Nachweisgrenze von 50 HIV1 RNA Kopien/ml auf. Die Werte für
Cholesterin und Triglyzeride besserten sich unter Nevirapin
mehr als unter Atazanavir/r.
Häufigste Nebenwirkungen waren ein Hautausschlag (15, 17 und 12%);
schwerwiegende Hautausschläge (Garde 3-4) wurden bei 1.6, 1.6 und 0% der
TeilnehmerInnen beobachtet.
Die Abbruchrate infolge von Nebenwirkungen betrug 10.6, 14.4 und 2.6%.
Resistenz
Zur
Entwicklung einer völligen Resistenz genügt eine einzelne Mutation an Position
181. Viren mit dieser Resistenzmutation sind 100%ig kreuzresistent gegen
Delavirdin. Im Reagenzglas sind diese Viren weiterhin empfindlich auf
Efavirenz. Viren mit einer Mutation an Position 103 sind gegen alle bisherigen
NNRTIs resistent.
Nebenwirkungen
Die häufigste
beobachtete Nebenwirkung ist ein Hautausschlag, der in einzelnen Studien bei
jedem fünften Patienten beobachtet. wurde. Bei ca. 6% der Studienteilnehmer
wurde der Ausschlag als schwerwiegend beurteilt und die Behandlung abgebrochen.
Risikofaktoren für das Auftreten eines Hautauschlags sind weibliches Geschlecht
und hohe CD4-Zellen. Vorschriften
zum Vorgehen bei Nebenwirkungen sind strikt einzuhalten.
Nicht weniger von Bedeutung ist eine mit dem Hautausschlag assoziierte
Hepatitis (Anstieg der Leberwerte), die in klinischen Studien bei 4% (Range
2.5-11%) beobachtet wurde und seltenerweise fulminant und tödlich verlief. Das
Risiko scheint während der ersten 1.5 Jahre am höchsten. Frauen, Menschen mit hohen CD4-Werten und/oder
Menschen mit erhöhten Leberwerten bzw. einer HBV/HCV-Koinfektion bei
Behandlungsbeginn haben ein erhöhtes Risiko. Eine Therapie mit dieser Substanz soll deshalb bei Frauen mit mehr
als 250 und bei Männern mit mehr als 400 CD4-Zellen lediglich fortgesetzt,
nicht aber nicht begonnen werden.
Interaktionen
Nevirapin,
andere Nicht-Nukleosidanloga RT-Hemmer und Protease-Inhibitoren werden in der
Leber über das Cytochrom P450-System abgebaut. Wechselwirkungen mit anderen
Medikamenten und Substanzen, sogenannte Interaktionen, sind vor allem dann zu
erwarten, wenn diese dasselbe Enzymsystem benutzen. Das Resultat dieser
Wechselwirkungen sind häufig zu hohe oder zu niedrige Blutspiegel von Nevirapin
und/oder der anderen eingenommenen Substanz. Einzelne Interaktionen sind
potentiell lebensbedrohlich. Zu hohe Blutspiegel führen unter Umständen zu
Nebenwirkungen, zu tiefe Blutspiegel zum Verlust der Wirksamkeit.
Nevirapin sollte nicht zusammen mit folgenden Substanzen eingenommen werden:
Astemizol, Cisaprid, Midazolam, Rifampicin, Terfenadin, Triazolam.
Eine Übersicht - gegliedert nach therapeutischen Gruppen - über die wichtigsten
Substanzen deren gleichzeitige Einnahme mit Nevirapin zu bedeutsamen
Wechselwirkungen führt findet sich in der Tabelle Interaktionen mit antiretroviralen Medikamenten.
Lagerungsvorschriften
Nevirapin ist
erhältlich als Retard-Tabletten à 400mg sowie als Tabletten à 200mg und bei Zimmertemperatur in der
Originalpackung aufzubewahren.
Dosierung
Nevirapin
wird zusammen mit Nukleosidanaloga RT-Hemmern während der ersten 14 Tage in
einer Dosierung von 1 x 200 mg pro Tag und in der Folge von 1 x 400 mg pro
Tag als Retardtablette eingenommen.
Eine Therapie mit dieser Substanz soll bei Frauen mit mehr als 250 und bei
Männern mit mehr als 400 CD4-Zellen lediglich fortgesetzt, nicht aber nicht
begonnen werden (siehe Nebenwirkungen). Eine
einschleichende Dosierung während der ersten 14 Tage ist zwingend und während
der ersten 8 Wochen muss die Sicherheit der Behandlung intensiv überwacht
werden.
Die Dosierung bei Kindern im Alter zwischen 2 Monaten bis 8 Jahre beträgt
einmal 4mg/kg pro Tag während 2 Wochen gefolgt von einmal 7mg/kg pro Tag. Die
Dosierung bei Kindern über 8 Jahren beträgt zweimal 4mg/kg pro Tag. Die
maximale Tagesdosis für alle Patienten beträgt 400 mg pro Tag (2 x 200mg pro
Tag).
Wird Nevirapin zusammen mit Protease-Inhibitoren eingenommen, ist infolge
möglicher Wechselwirkungen mit diesen Substanzen
unter Umständen eine andere Dosierung angezeigt.
Kommentar
Die Studie
BI-1046 zeigt meines Erachtens vor allem zwei wesentliche Dinge:
1. Nevirapin, eine Substanz gegen welche unter eine Monotherapie häufig innert
Tagen eine Resistenzentwicklung auftritt kann im Rahmen einer
Kombinationsbehandlung (mit Nukleosidanaloga RT-Hemmern) sinnvoll eingesetzt
werden. Im Rahmen der Kombination leistet die Substanz einen entscheidenden Beitrag
zum Ausmass der Hemmung der Virusvermehrung. Dies könnte auch erklären, weshalb
die Wirkung anhält: Wenn keine (sehr wenige) neue Viren entstehen, entstehen
auch keine (nur selten) resistente Viren.
2. Medikamente können nur eine Wirkung haben, wenn man sie einnimmt und wenn
sie vom Körper auch aufgenommen werden. Eine Binsenwahrheit. Für die Behandlung
von HIV/Aids ist diese Studie meines Wissens jedoch die erste, die zeigt, dass
die tägliche Einnahme der Medikamente in korrekter Dosis einen wirklich
entscheidenden Faktor für den Therapieerfolg darstellt.
Die 48
Wochen-Resultate der ATLANTIC Studie zeigen, dass die Kombinationen d4T/ddI/NVP
und d4T/ddI/IDV bei bisher unbehandelten Menschen mit HIV und einem relativ
tiefen initialen viral load eine ähnliche antiretrovirale Wirksamkeit
aufweisen. Die Kombination d4T/ddI/3TC ist - wie bei PatientInnen mit hohem
initialem viral load ersichtlich - virologisch deutlich weniger wirksam.
Die 48
Wochen-Resultate der ARTEN Studie zeigen, dass die Kombinationen NVP (ein oder
zweimal täglich verabreicht) +TDF+FTC der Kombination Atazanavir/r + TDF +FTC
virologisch nicht unterlegen und bezüglich Lipidprofil wahrscheinlich
überlegen ist.
Hauptproblem
der Substanz ist der für Arzt und Patienten "mühsame Start":
Wegen eines möglich Hautausschlags und einer potentiell lebensbedrohlichen
Hepatits müssen Einschlusslimiten (CD4-Zellzahl) beachtet , die Substanz
über zwei Wochen einschleichend dosiert und die Behandlung während der
ersten 8 Wochen speziell überwacht werden.
Literatur
Last
update 13.03.2012