Ritonavir (Norvir®)

Einleitung

Ritonavir (RTV, ABT-538, Handelsname Norvir®, Hersteller: Abbott) gehört zur Klasse der antiretroviralen Substanzen die Protease-Inhibitoren genannt werden. Weitere Substanzen dieser Klasse sind Amprenavir, Atazanavir, Darunavir, Indinavir, Lopinavir, Nelfinavir, Saquinavir und Tipranavir. Die Wirkungsweise dieser Substanzen besteht in der Hemmung eines viruseigenen Enzyms, der HIV-Protease. Die Blockierung dieser "Eiweiss-Schere" führt zu unreifen, nicht-infektiösen Viren, d.h. sie können keine weiteren Zellen mehr infizieren. Protease Inhibitoren verhindern deshalb bei HIV-infinzierten Personen neue Infektionszyklen. Zwischen den einzelnen Proteaseinhibitoren besteht eine weitgehende Kreuzresistenz; d.h. gegen Viren, die auf die eine Substanz unempfindlich geworden sind nützen auch die anderen Medikamente dieser Substanzklasse nichts mehr, oder zumindest nicht mehr zuverlässig.

In der Schweiz ist Ritonavir zugelassen zur Kombinationstherapie der HIV-Infektion von Erwachsenen und Kindern. 

Protease Inhibitoren werden vorzugsweise zusammen mit zwei Nukleosidanaloga RT-Hemmern eingesetzt. Im Idealfall handelt es sich um drei neue Substanzen, mit denen eine Person noch nie zuvor behandelt wurde. Bei vorbehandelten Personen ist dies nicht immer möglich. In diesem Fall sollte ein Therapiewechsel mindestens zwei neue Substanzen ohne Kreuzresistenz umfassen mit denen die Person noch nie zuvor behandelt wurde. Die Zugabe lediglich einer neuen Substanz zu einer unbefriedigenden Therapie führt zur Entwickung von Resistenzen und ist zum Scheitern verurteilt.

Ritonavir wird seit ca. 2000  in der Regel nur noch in niedriger Dosierung (1x 100 mg/d - 2 x 200 mg/d) als CYP 3A4-Blocker  zusammen mit einem anderen Proteasehemmer eingesetzt.

Resultate von Studien

In der Studie M94-2471 erhielten 1090 Patienten (9% Frauen) mit weniger als 100 (Mittelwert 20) CD4-Zellen zusätzlich zu ihrer vorbestehenden Therapie mit einem oder zwei Nukleosidanaloga RT-Hemmern entweder Ritonavir oder Placebo. Nach gut 7 Monaten wurde in der mit Ritonavir behandelten Gruppe bei 119/543 (21.9%) und in der Vergleichsgruppe bei 205/547 (37.5%) ein Fortschreiten der Krankheit, davon Todesfälle bei 26/543 (4.8%) und 35/547 (6.4%) beobachtet. Zur Hauptsache wegen Nebenwirkungen wurde Ritonavir bei 114/543 (21.1%) und Placebo bei 45/547 (8.3%) der Studienteilnehmer abgesetzt.

In einer holländischen Studie2 wurden 33 bisher unbehandelte Patienten mit einem mittleren viral load von ca. 200'000 RNA-Kopien/ml und einer mittleren CD4-Zellzahl von ca. 150 Zellen/ul mit einer Kombination von Ritonavir + Zidovudin (Retrovir-AZT) + 3TC (3TC, Epivir) behandelt. Nach 6 Behandlungsmonaten zeigte sich ein Abfall des viral loads von ca. 2 log (eine Abnahme um Faktor 100) und ein Anstieg der CD4-Zellen von ca. 110 Zellen/ul. Alle Patienten, welche die Kombination tolerierten (24/33) hatten im Blut einen nicht mehr nachweisbaren viral load; die untere Nachweisgrenze des verwendeten Tests betrug 200 RNA-Kopien/ml. Die Reduktion der Viruskonzentration im Blut ging einher mit einer Reduktion im lymphatischen Gewebe.
 

In einer in den USA und Canada durchgeführten Studie3 wurden 139 bisher nicht mit Protease-Inhibitoren behandelte Patienten mit einem viral load von ca. 100'000 RNA-Kopien/ml und im Mittel 275 CD4 Zellen/ul prospektiv mit einer von vier verschiedenen Dosierungen von Ritonavir und Saquinavir (Invirase) behandelt. Nach 48 Behandlungswochen erhielten alle Patienten Ritonavir 2 x 400mg/d und Saquinavir 2 x 400mg/d. Bei virologischem Therapieversagen war eine Therapie-Intensivierung erlaubt (Definition: Fehlender Abfall des viral loads auf <200 HIV-RNA-Kopien/ml nach 12 Behandlungswochen oder Wiederanstig des viral loads über diesen Wert).
Nach 72 Behandlungswochen hatten 90% der Patienten einen viral load <200 HIV-RNA-Kopien/ml [Graphik] und der mediane Anstieg der CD4-Zellen betrug 185 Zellen/ul, unabhängig vom initialen Behandlungsregime. 27 Patienten erhielten wegen eines virologischen Therapieversagens eine Therapie-Intensivierung, meistens d4T + 3TC; 21/27 hatten nach 72 Wochen einen viral load <200 RNA-Kopien/ml.

In der schweizerischen Studie M610014 erhielten bisher unbehandelte Patienten offen Ritonavir (2 x 400-600mg/d), Saquinavir (Invirase) (2 x 400-600mg/d) und d4T (2 x 30-40mg/d). Bei 56 Patienten mit einem viral laod von etwa 100'000 RNA-Kopien/ml und im Mittel etwa 80 CD4-Zellen/ul fand sich nach 9 Behandlungswochen ein Abfall des viral loads um 2.7 log. Die meisten Patienten erhielten aus Verträglichkeitsgründen Ritonavir 2 x 400mg/d.
Saquinavir-Blutspiegel, gemessen bei 16 Patienten, waren im Mittel 46 mal x höher (Streubereich 10-100) als sie nach der Einnahme von "Invirase" allein erwartet werden.

Resistenz

Eine Resistenzentwicklung gegen Ritonavir erfolgt schrittweise durch die Anhäufung mehrerer Mutationen. Die bedeutendsten erfolgen an den Positionen 36, 54, 82, 84; weitere Mutationen werden an den Positionen 10, 20, 46, 63 71 und 90 beobachtet. Ritonavir und Indinavir sind zu 100% kreuzresistent.

Nebenwirkungen

Die häufigsten beobachteten Nebenwirkungen sind Übelkeit, Erbrechen, Durchfall, Kirbbeln um den Mund und elektrisierende Gefühle an Armen und Beinen. Diese Nebenwirkungen sind vor allem bei Beginn der Behandlung zu beobachten. Eine aufsteigende Dosierung von Ritonavir über 14 Tage bei Therapiebeginn reduziert die Nebenwirkungen.

Interaktionen

Ritonavir, die anderen Proteaseinhibitoren und die Nicht-Nukleosidanloga RT-Hemmer werden in der Leber über das Cytochrom P450-System abgebaut. Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten und Substanzen, sogenannte Interaktionen, sind vor allem dann zu erwarten, wenn diese dasselbe Enzymsystem benutzen. Das Resultat dieser Wechselwirkungen sind häufig zu hohe oder zu niedrige Blutspiegel von Ritonavir und/oder der anderen eingenommenen Substanz. Einzelne Interaktionen sind potentiell lebensbedrohlich. Zu hohe Blutspiegel führen unter Umständen zu Nebenwirkungen, zu tiefe Blutspiegel zum Verlust der Wirksamkeit.
Ritonavir sollte nicht zusammen mit folgenden Substanzen eingenommen werden: Alprazolam, Amiodaron, Astemizol, Bepridil, Bupropion, Chinidin, Cisaprid, Clorazepat, Clozapin, Diazepam, Disulfiram, Encainid, Estazolam, Flecainid, Flurazepam, Meperidin, Midazolam, Piroxicam, Paroxetin, Propafenon, Propoxyphen, Rifampicin, Rifabutin, Terfenadin, Triazolam, Zolpidem.
Eine Übersicht - gegliedert nach therapeutischen Gruppen - über die wichtigsten Substanzen deren gleichzeitige Einnahme mit Ritonavir zu bedeutsamen Wechselwirkungen führt findet sich in der Tabelle Interaktionen mit antiretroviralen Medikamenten.

Lagerungsvorschriften

Ritonavir ist erhältlich als Filmtabletten à 100mg (ab 01.10.2010),  Kapseln à 100mg oder als Sirup. Filmtabletten können bei Raumtemperatur aufbewahrt werden. Kapseln sind grundsätzlich im Kühlschrank bei einer Temperatur zwischen 2 und 8°C und vor Licht geschützt aufzubewahren. Bei Zimmertemperatur (unter 30 Grad Celsius) sind die Kapseln maximal einen Monat haltbar.
Der Sirup soll nicht im Kühlschrank aufbewahrt werden!
 

Dosierung

Ritonavir wird seit ca. 2000  in der Regel nur noch in niedriger Dosierung (1x 100 mg/d - 2 x 200 mg/d) als CYP 3A4-Blocker  zusammen mit einem anderen Proteasehemmer eingesetzt.

Eingesetzt als Proteasehemmer wird Ritonavir zusammen mit Nukleosidanaloga RT-Hemmern in einer Dosierung von 2 x 600 mg pro Tag eingenommen, entweder als 2 x 6 Kapseln oder als 2 x 7.5ml Sirup. Wird Ritonavir zusammen mit Nicht-nukleosidanalogen RT-Hemmern oder anderen Protease-Inhibitoren eingenommen, ist infolge möglicher Wechselwirkungen mit diesen Substanzen unter Umständen eine andere Dosierung angezeigt.
Zur Verminderung der initialen Nebenwirkungen erfolgt der Therapiebeginn mit reduzierter Dosis und wird über maximal 14 Tage auf die Normaldosis gesteigert; z.B. 2 x 300 mg pro Tag für drei Tage, dann 2 x 400 mg pro Tag für vier Tage gefolgt von 2 x 500 mg für fünf Tage mit Erreichen der Normaldosis am 13. Tag. 

Die Dosierung bei Kindern beträgt 2 x 400 mg pro Quadratmeter Köperoberfläche und Tag mit einer Maximaldosis von 2 x 600 mg pro Tag. Die initiale Dosis beträgt 2 x 250 mg pro Quadratmeter Köperoberfläche und Tag welche - wie bei Erwachsenen - innert maximal 14 Tagen auf die Normaldosis gesteigert wird.

Tips zur Verminderung der Nebenwirkungen von Ritonavir- Sirup
 

Kommentar

Die Studie M94-247 erbrachte in Rekordzeit den Nachweis der klinischen Wirksamkeit von Ritonavir, führte zur Zulassung der Substanz (ebenfalls in Rekordzeit) und leistete damit einen wesentlichen Beitrag zu Verbesserung der Therapie vieler Menschen mit HIV/Aids. Der Erfolg dieser Studie basierte auf einem Studiendesign, das darauf angelegt war, möglichst effizient zu zeigen, dass Ritonavir wirkt, nicht aber wie die Substanz am besten eingesetzt werden sollte.
Die Behandlung der kränksten Menschen mit einer potenten Substanz zusätzlich zu ihrer vorbestehenden - bei den meisten Patienten vermutlich jedoch bereits wirkungslos gewordenen - Behandlung zeigte eindrücklich dass Ritonavir nützt. Die faktische Monotherapie mit einem Protease Inhibitor führte jedoch längerfristig bei vielen Studienteinehmern (und andern Menschen mit HIV/Aids die nach dem Prinzip des "Add-on" behandelt wurden) zur Resistenzentwicklung und zum Verlust der Wirksamkeit. Die Studie ist aus heutiger Sicht somit auch ein Beispiel, wie eine antiretrovirale Therapie nicht durchgeführt werden soll.  
Seit ca. 2000 wird die Substanz in der Regel nur noch in niedriger Dosierung (1x 100 mg/d - 2 x 200 mg/d) als CYP 3A4-Blocker  eingesetzt und ermöglicht so genügend hohe Wirkstoffkonzentrationen besser verträglicherer Proteaseinhibitoren in einer ein- oder zweimaltäglichen Dosierung. 
Mit der in der Schweiz seit 01.10.2010 kassenpflichtigen Form einer Filmtablette entfällt für den Patienten die Notwendigkeit der Lagerung im Kühlschrank. Für Länder wie die Schweiz ist dies ein willkommenes Detail - nebst der vernünftigen Packungsgrösse (30 Stück) und der Tatsache, dass die Filmtabletten kleiner sind - für warme Länder mit  geringerer Kühschrankdichte hingegen ermöglicht die Filmtablette multiple neue Therapien.

Literatur

  • Arzneimittel-Kompendium der Schweiz: Fachinformation
  • DW. Cameron, M. Heath-Chiozzi, S. Danne, et. al. Placebo-controlled trial of ritonavir in advanced HIV-1 disease. The Advanced HIV Disease Ritonavir Study Group. Lancet. 1998 Feb 21; 351(9102): 543-549.
  • S. Danner. 3th International Congress on Drug Therapy in HIV Infection, Birmingham 1996, Abstract.
  • J. Mellors, AJ Japour, JW. Leonard, et al. Ritonavir (RTV)-saquinavir (SQV) in protease inhibitor-naive patients after 72 weeks. 12th World AIDS Conference, Geneva, Switzerland, 1998, Abstract 12295.
  • M. Battegay, E. Bernasconi, M. Flepp, et al. A., Pilot Study of Saquinavir in Combination with Ritonavir and d4T in Patients with Advanced HIV Disease. 37th ICAAC, Toronto, Ontario, Canada, 1997, Abstract I203.

  • Last update 09.10.2010